Meine Lieblingsfarbe ist Bunt. Oder Schwarz. Baltimore

Mein Baltimore, Maryland, USA

Weit davon entfernt, Baltimore-Kennerin zu sein, gebe ich zu dieser Stadt meinen Senf ab. Keinen Löwensenf und keinen Lyon-Senf, aber auch nicht den okerfarbenen Matsch vom Weihnachtsmarkt, den man sich auf die Bratwurst zieht. Es ist bloß Maja-Senf oder wie man auch heute noch manchmal sagt: Meine 5 Cent. Und das mit den 5 Cents passt.

Do you have some change for me?

„Do you have some change for me?“, ist der Satz, den ich an den 3 Tagen in Baltimore am häufigsten höre. Kein Wunder, denn mein Hotel liegt am Rand zum Inner Harbour, dem Gebiet in direkter Nachbarschaft zu Downtown, also zur City. Dort, wo das Leben ist, wo es alle hinzieht. Wo die Unternehmen sind, das Congress Center, die schicken Hotels, Restaurants, Shopping-Malls.

Inner Harbour, was auf Deutsch so ziemlich Innenhafen bedeutet, ist ein schickes Gebiet mit vielen neuen, teuren Restaurants und ein paar kleineren Malls. Hier liegen auch fast alle Sachen, die einem Touristen für Unternehmungen empfohlen werden. Der Taxifahrer, der mich vom BWI, dem Baltimore-Washington International, zum Hotel bringt, sagt das auch gleich: „Inner Harbour, Inner Harbour … alle wollen nur noch dahin. Es ist schön da. Laufen Sie da ruhig mal rum.“ Er selbst hält sich da zwar nicht so oft auf, aber die Stadt tut was für … die Stadt.

Da ist heutzutage viel Polizei

Auf meine Frage, wie gefährlich Baltimore sei, meint der Taxifahrer abwägend: „Nicht sehr. Einige Arme. Sie haben keinen Job, keine Wohnung. Die betteln.“ „Das kenne ich aus meiner eigenen Stadt“, antworte ich. Und es stimmt. Wenn ich in die Essener City fahre, werde ich zwischen Limbecker Platz, Kettwiger und dem Kennedy-Platz mindestens zehnmal angeschnorrt. Selbst in dem reichen Stadtteil, in dem ich manchmal bei ALDI einkaufe, steht neuerdings oft einer von der Obdachlosenzeitung. In Baltimore passiert das auch, nur dass die Menschen mir keine Zeitung entgegen strecken. Ein paar Obdachlose liegen mitten auf einem Spazierweg, sodass man über sie stolpert. Bei Temperaturen um den Nullpunkt zieht es einige von ihnen in die Malls und großen Geschäfte, z.B. zu Barnes & Nobles, wo sie meist umgehend wieder von einem Türsteher an die frische Luft gesetzt werden. Und fast alle sind Schwarz. Auch die Türsteher. Das ist in Baltimore das Besondere. Das, was sofort jeden anspringt, der, wie ich, normalerweise in einer weißen Umgebung lebt.

Black City

Rund zwei Drittel der Einwohner Baltimores sind Schwarze, ein Drittel sind Weiße oder Latinos oder Asiaten. Damit ist Baltimore eine schwarze Stadt. Mein netter Taxifahrer ist schwarz, die herzallerliebste Rezeptionistin in meinem Hotel ist schwarz, die freakige Kellnerin ist schwarz. Selbst der Bürgermeister, Bernard Young, ist ein Schwarzer. Letzteres ist ja nicht so selbstverständlich, da die Machtpositionen ja auffällig oft von Privilegierten besetzt sind. Die schlecht bezahlten Jobs, die miesen Stadtviertel, die Schlafplätze auf dem Boden der Gehwege im schicken Inner Harbour gehören jenen, die in arme Familien hineingeboren wurden, im falschen Stadtteil, im falschen Land und so weiter. Die anderen ziehen in die schicken Vororte und treiben sich auf den Vorzeigemeilen herum, durchbrochen von dem ein oder anderen, der dich fragt, ob du ein bisschen Kleingeld für ihn übrig hast. So wie eine Nadel im Heuhaufen, die die immer mal wieder piekst: Es gibt nicht nur dich und deinesgleichen. Das habe ich schon in so vielen Ländern und Städten erlebt. Und auch studiert, früher, als ich noch keine Schnulzen schrieb. Nur da wusste ich es bloß aus Statistiken und Fachliteratur und es hat mich nicht so verdammt tief angerührt, obwohl ich es damals glaubte. Wobei der Anblick einer Schulklasse auf einem Ausflug fast schon verstörend ist: Um die 20 schwarze Kinder und eine weiße Lehrerin.

Urlaub mit Reality-Einlage

Drei Tage brauche ich, bis ich mich von einem Erlebnis beim Frühstück in meinem Hotel erhole. Ich lebe zurückgezogen und bin ein eher bescheidener Mensch, steige meist in kleinen Unterkünften ab. In Baltimore und später auf meiner Reise in Baltimore habe ich 3-Sterne-Hotels gebucht. In einem 5-Sterne-Hotel hätte ich das wahrscheinlich nicht erlebt. Der junge Mann mit den Rasta-Locken fällt mir zuerst am Waffelstand auf. Es gibt da zwei Waffelautomaten, mit denen man sich dicke amerikanische Waffeln backt. Echt lecker. Und einfach: Man sprüht das Waffeleisen mit Fett ein, zapft sich eine Tasse Teig und gibt den Teig in eine Form. Man klappt den Deckel zu und dreht die Form, die auf einer Achse angebracht ist, um. Von da an läuft eine Uhr. Nach zweieinhalb Minuten hebt man den Deckel und holt vier duftende Waffeln raus.

Der junge Mann mit den Rastalocken weiß anscheinend nicht, wie der Automat funktioniert. Ein anderer Gast fragt ihn irgendwie oberlehrerhaft, ob er das Teil nicht umgedreht hat und dreht es dann für den Jüngeren um. Später sitzt der junge Mann gemeinsam mit seinem Vater direkt am Tisch neben mir. Ich höre, wie der Vater sagt: „Don’t look so mad!“ Der Sohn lacht daraufhin laut und irre und ich habe meine Augen und Ohren jetzt ganz am Nebentisch. Der Junge hat keine Zähne und unzählige Nadeleinstiche auf seinen Handrücken. Ich glotze also dahin wie der letzte Gaffer bei einem Verkehrsunfall. Sind das die Folgen von … Crack? Ich wage die Frage kaum zu stellen. Der Vater schämt sich und sieht zugleich so unendlich traurig aus. Aber ja, das macht Crack. Scheiße. Die beiden stehen auf und hauen ab. Ich glotze immer noch wie ein Schaf.

Charme City

Ich habe keine Ahnung, was in Baltimore getan wird, um Armut, Ungleichheit, das Drogenproblem etc. in den Griff zu bekommen. Mit dem Slogan „Baltimore is Charme City“ wird versucht, die Wahrnehmung der Stadt in der Öffentlichkeit zu verbessern. Damit werben die Verantwortlichen im Internet, das steht auf den Bussen. Baltimore is charming. Baltimore hat Charme.

Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, ausgerechnet nach Baltimore zu reisen. Die Stadt landete auf meinem Reiseplan, weil ich meinen Liebsten zu einem Kongress begleitet habe. Und weil es nur 1 Stunde mit dem Schnellzug von New York entfernt ist. Und weil ich vorher noch nie an der Ostküste gewesen bin. Also bin ich mit und habe mich dort umgesehen, während der Liebste über Fußball im Congress Center weilte.

Soweit ich davon entfernt bin, eine zertifizierte Baltimore-Expertin zu sein, so weit ist Baltimore davon entfernt, ein widerliches Drecksloch zu sein, in dem alle Jugendlichen im Drogensumpf versinken. Es gibt wahrscheinlich nicht mehr Elend als anderswo auf der Welt. Mir fällt es hier nur ganz besonders auf, weil die sichtbare Armut in allen Fällen mit der Hautfarbe zusammen fällt. Es gibt auch Schönes, wie den schicken Inner Harbour. Und Historisches. Zum Glück.

Star Spangled Banner

In meinem Hotel , einem alten Speicherhaus, wurde 1813 sage und schreibe die amerikanische Flagge genäht. Kurz darauf wurde das Haus in eine Brauerei umgeändert. Heute ist es ein wahnsinnig cooles Hotel. Hierzulande würde es als Boutique-Hotel durchgehen und viel mehr kosten. Die Nacht inklusive Frühstück hatten wir für 90 Dollar. Für 2 Personen, da in USA Zimmerpreise gelten.

Mein Hotel von der Seite, eine alte Lagerhalle. Früher Brauerei UND in diesen Räumen wurde einst die amerikanische Flagge genäht. Kein Scherz.
Fairfield Inn Marriott
Mein Hotel von einer anderen Seite. Absolut empfehlenswert. Supersauber, stylish und mit historischem Background. Und für amerikanische Verhältnisse billig.

Baltimore ist lecker: Little Italy

Hinter dem Hotel liegt Little Italy. Dort kann man sich in unzähligen, reizenden Restaurants, die sich in schnuckeligen Reihenhäusern befinden, den Bauch vollschlagen. Es gibt viele Restaurants, in denen die in Baltimore legendären Crabs in allen möglichen Varianten zubereitet werden. Immerhin liegt die Stadt am Meer und manche Läden heißen tatsächlich „Bubba Gump Shrimp“ oder es hängt ein Schild im Fenster, auf dem steht, dass es hier Bubba Gump Shrimp gibt. An dieser Stelle sollte ich, wie so viele Reiseführer, sagen: Esst auf jeden Fall ein Crab-Sandwich, wenn ihr hier seid. Ja, ist echt lecker. Aber ich bin ja sowieso ein bisschen verfressen.

Hunger, Sprudelwasser und Sightseeing

In Inner Harbour wundere ich mich nicht nur so sehr über die vielen Schwarzen, dass ich mir Statistiken über die Stadt besorge. Ich wunder mich auch, wo die Leute einkaufen, denn ich finde nur einen einzigen 7/11, was sowas wie ein Kiosk ist. Aber ich finde keinen einzigen Supermarkt. Und mein Liebster will Mineralwasser, also Wasser mit Blubber, worunter man zumindest in diesem Teil im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, süßen Sprudel versteht.

Auf mein unverständiges Nachfragen, erklärt mir eine bildhübsche (schwarze) Hotelangestellte namens Jewel, wo ich den nächsten Supermarkt finde. Auf dem Weg dahin gelangt man nach Fell’s Point, wo ich sowieso hin will. Also erst kommt der Supermarkt. Whole Foods. Da gibt es sogar fertig gekochtes Mittagessen mit Kalorienangabe, das man sich wie den Salat in manchen Supermärkten bei uns in Germany, in Boxen packt und nach Gewicht bezahlt. Wem das an Nährstoffen nicht reicht, der kann sich in mehreren Riesenregalreihen mit Proteinen und Vitaminen in Pillenform bedienen. Dermaßen gestärkt gehe ich also nach Fell’s Point, dem Top-Touri-Spot von Baltimore.

Fell’s Point

Warum auch immer, aber im Fenster eines der ersten Läden, an denen ich vorbeikomme, hängt ein Schild, dass es hier alle Arten von Weed gäbe, man aber kein Rezept vom Arzt brauche, um es zu bekommen. Ich gehe nicht rein, frage nicht nach, ob man dort bekäme, wovon ich glaubte, dass es das dort gäbe. Die Shisha-Pfeifen im Schaufenster sind sicher bloß für Leute mit Atemwegsproblemen. Ich mache lieber einen auf blinden Touri . Bloß nicht noch so einen Anblick wie den Jungen und seinen traurigen Vater beim Frühstück. Herrje, ich schreibe Schnulzen. Das hat verdammt nochmal Gründe, wie ich jetzt wieder erinnert werde.

Und es geht echt bergauf. Es gibt ein altes und ein neues Fell’s Point. Fell’s Point ist eine Neighbourhood, d.h. eine Ansammlung von Häusern, in denen die Menschen leben. Im neueren Teil sind die Attraktionen die Kunst-Galerien, von denen der Ort einige hat.

Im alten Teil sind die Attraktion die Häuser selbst. Fell’s Point liegt an der Chesapeake Bay, wurde 1763 gegründet und sowohl die Häuser als auch die Pflasterstraßen sind viel zu gut im Original erhalten. Es gibt einige Hotels, Restaurants, Bars, Galerien, Boutiquen und Theater. Nicht so viele wie ich nach der Lektüre der Reiseratschläge im Internet erwarte, aber doch einige. Bei Sonnenschein erlebt man hier sicher Vintage-Romantik pur. Aber ich bin ja bei Minus 3 Grad da. Leichter Schneefall inklusive. Selbst in dem Hüte-Laden mit der zitronengelben Tür zieht es wie Hechtsuppe. Mich wundert ehrlich gesagt, dass die Verkäufer keine Mütze auf dem Kopf haben. Die sind vielleicht zu teuer.

Bars, Restaurants und kleine Shops im historischen Fell's Point
Bars, Restaurants und kleine Shops im historischen Fell’s Point, Baltimore, Maryland, USA

Fazit

Okay. Begeisterung klingt anders. Urlaub in Baltimore machen, im Sinne von 3 Wochen Meerluft schnuppern, Drachen-Tretboot fahren und sich im Spa die Fußsohlen massieren lassen? Eher nicht. Nicht, dass ich das erwartet hätte. Ich bin ohne jegliche Erwartung mit dorthin geflogen. Einfach mal gucken, was da geht. Ein paar Tage eine andere Welt hinein riechen: Das kann man in Baltimore auf jeden Fall. Es bewahrt einen mindestens vor einer Wohlstandsdepression. Nach einer Reise kommt man immer als ein etwas anderer Mensch zurück. Und so etwas gefällt mir. Ich bin also durchaus begeistert. Wie man den Fotos entnehmen kann, hatte ich einige Aha-Momente. Vielleicht komme ich eines Tages wieder. Wenn die Sonne scheint.

Fotos

© Maja Keaton (Abdruck, auch auszugsweise, nur mit meiner schriftlichen Genehmigung)

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